Latein schult in besonderer Weise die Sprachreflexion, mithin das Verständnis für zentrale grammatische Erscheinungen, welche die meisten europäischen, insbesondere aber die romanischen Sprachen, bis heute prägen. Latein schafft von Beginn an eine Distanz zur eigenen Sprachlichkeit, nötigt zum Vergleich in Syntax und Ausdruck mit den modernen Sprachen. Latein löst damit auch Hemmungen bei Schülerpersönlichkeiten, die zunächst keine Freude am aktiven Sprachgebrauch, aber häufig eine tiefere Begabung für genaue Beobachtung und ihren adäquaten Ausdruck haben.
Sprache unterm Mikroskop
Die Ablehner des Latein können an dieser Stelle kein überzeugendes Argument liefern: Latein vermittele nichts, was derzeit von Nutzen sei – gerade die unreflektierte Technikgläubigkeit und Naivität eines Sprachgebrauchs, der zwar Kommunikation an der Oberfläche, aber kaum eine tiefergehende Fähigkeit zum Dialog vermittelt, wird auch durch Latein erheblich erschüttert. Anders als eine Ausbildung zielt Bildung gerade nicht primär auf – fragwürdige – Kausalstrukturen und Finalitäten. Lateinische Sprachreflexion entschleunigt, indem zwar nur wenige Sätze, dafür aber in der hohen Intensität statarischen Lesens, also eines Lesens, das jeden Buchstaben, jede Silbe und jedes Wort im Zusammenhang mit dem Text in den Blick nimmt, in einer Unterrichtseinheit untersucht und befragt werden. Dabei wird eine Kompetenz entwickelt, Texte im mikroskopischen Blick (ähnlich wie Aphorismen) zu explizieren, und dann in ihrer Wirksamkeit auf ihre ursprüngliche Lebenswelt, aber auch in ihrem Nachwirken zu verfolgen. Diese Kompetenz kommt in den anderen Sprachen an der Schule meist zu kurz.