Ein Austauschjahr in Zeiten von Corona – ein Interview

Aldo, können sie sich ganz kurz vorstellen? Hallo zusammen! Ich bin Aldo R., ein italienischer Austauschschüler, der ein einjähriges Programm in Hamburg absolviert und der das WdG besucht.

Welche Folgen hat das Corona-Virus für Sie als Austauschschüler? Gegen Ende Februar habe ich eine erste Nachricht über das Corona-Phänomenon von meiner Organisation bekommen. Alle anderen Austauschschüler und ich wurden damit nur gebeten, die sogenannten „Corona-Hinweise“ zu verfolgen (beispielsweise bedecken Nase und Mund, wenn man niest oder hustet.) Wir konnten aber immer noch unseren Aufenthalt ohne Probleme weiterführen. Die Situation hat aber sich drastisch verändert…

Hätten Sie nach Italien zurückkehren müssen? Am 15. März habe ich eine zweite E-Mail von meiner Organisation bekommen. Ein vorzeitiges Programmsende wurde für alle Teilnehmer des Programms überall in der Welt beschlossen. Ich sollte Hamburg innerhalb von zwei Tagen verlassen.

Warum wollten Sie hier bleiben? Ich habe zu lange und zu viel von meinem Auslandsjahr geträumt. Ich habe viel Schönes erfahren, zu viel erreicht. Ich konnte nicht auf einmal abreisen und alles zunichtemachen. Ich habe mir versprochen, ein Auslandsjahr in Deutschland zu machen und das ist mein Wunsch geblieben. Zum Glück habe ich die Unterstützung meiner Gastfamilie, des WdG sowie meiner Familie und Schule aus Italien bekommen, weil ich auch gelernt habe, mit dieser ganzen Situation umzugehen. Ja klar, diese Entscheidung getroffen zu haben, ist nicht einfach gewesen. Es kann sehr schwierig sein, diese Krise entfernt von zu Hause zu erleben. Ich musste meine Person selbst in Frage stellen und hatte Zweifel. Ich bin trotzdem zu einem Schluss gelangen: Man kann seine höchste eigene Entwicklung nur durch Widrigkeiten erreichen. Genau Schwierigkeiten geben nämlich dem Individuum die Möglichkeit, die Welt aus einer neuen, unterschiedlichen und letztendlich besseren und authentischeren Perspektive zu beobachten. Ich möchte mein Auslandsjahr immer noch völlig erleben. Ich bin bereit, auch alle seine Schwierigkeiten (jetzt besonders die Corona-krise) anzugehen. Dieses Jahr kann immer noch das beste meines Lebens sein.

Wie nehmen Sie die Nachrichten in Deutschland über das Virus in Italien wahr? Ich nehme sie unabsichtlich, manchmal unrealistisch wahr. Ich frage mich: „ist es wirklich so, dass dieses unsichtbare Monster mein Heimatland so heimsucht? Dass die Krankenhäuser keinen Platz mehr haben? Ist es vielleicht nur übertrieben?“ Alles sieht mir so entfernt von meinem gegenwärtigen Leben aus, dass ich diese Situation manchmal anzweifle. Es ist für mich auch manchmal schwierig, die deutsche und die italienische Realität gleichzeitig zu berücksichtigen und sie auseinanderhalten zu können.

Stimmt die Berichterstattung? Was erzählen Ihre Eltern und Freunde aus Italien? Soweit ich bemerken konnte, sind fast alle Berichterstattungen wahrhaft. Es kommt natürlich darauf an, woher man diese Informationen erfährt. Die Tagesschau wäre z.B. ein sehr gutes Informationsvehikel. Ich versuche dann, mich oft mit meiner Familie und Freunden aus Italien in Verbindung zu setzen. Auch ein sehr schneller Anruf ist für sie jetzt besonders wichtig. Sie erzählen mir, dass der Spitzenwert der Verbreitung der Pandemie letzte Woche erreicht wurde. Dagegen scheint die Zahl der Infizierten seit zwei/ drei Tagen langsamer zu wachsen.

Man hört von großartigen Aktionen aus Italien, wie kreativ mit der Corona-Situation umgegangen wird. Haben Sie das Gefühl, dass das Virus eine neue Solidarität zwischen den Menschen erzeugt? Ja, bestimmt. Ich bin davon völlig überzeugt. Es ist so, weil dieses Übel des Virus die vielleicht vergessene Verletzlichkeit des Menschen gezeigt hat. Corona achtet nicht auf finanzielle Verhältnisse und nicht auf den Sozialstaat. Wir sind vor seinen Augen alle gleich, alle nur Menschen, und als solche können alle betroffen werden. Man fühlt sich näher auch zu einem Fremden, weil auch er mit genau der gleichen Situation umgehen muss. Ein Mann hat, beispielsweise, vor seinem Geschäft in Italien einen Stuhl mit einigen Nahrungsmitteln und mit einem Schild hingestellt. Bedeutsam ist es die Schrift auf diesem Schild: „Füg hinzu, wenn du kannst, nimm wenn du nicht kannst“. Es ist auch aber daran zu beobachten, dass die Auswirkungen auf die Bevölkerung doch sehr anders sein können. In diesem Sinn kann der Sozialstaat für jeden bedeutsam sein. Deswegen ist es nötig, dass wir als Bürger die Haftung und die moralische Pflicht haben, denjenigen zu helfen, die jetzt von dieser Krise am meisten geschadet werden.

Meinen Sie, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird? Wenn ja, was wird sich verändern? Die Welt wird sicherlich in verschiedener Hinsicht anders sein. Ich möchte vor allem hoffen, dass der Mensch eine neue Bewertung der von ihm verfügten Sachen haben wird. Der Mensch ist nämlich zu oft geneigt, den echten Wert des Lebens zu unterschätzen. Man beschwert sich, weil man um 7 Uhr für die Schule aufstehen muss, man beschwert sich, weil man an unendlichen Familienmittagessen teilnehmen muss. Und jetzt, da wir davon beraubt wurden, versteht man, dass genau das unsere Identität darstellt, dass genau das unser Glück ist. Aus diesen Gründen meine ich, dass die Menschheit nach dieser Krise aufmerksamer, bewusster, eher geneigt zu dem Verständnis der Schönheit des Lebens als zu ihrer Unterschätzung werden kann.

Was wünschen Sie sich für die nächsten Monate Ihres Austauschjahres? Ich wünsche mir vor allem, dass ich die gemeinsame Freude hier erleben können werde, wenn diese ganze Situation vorbei sein wird. Da ich die Sorgen und die Schwierigkeiten dieser Krise erlebt habe, wäre es ein Traum für mich, noch während meines Auslandsjahres die Begeisterung und das Glück zu erleben, wenn das Corona-Virus nur eine schlechte Erinnerung sein wird. Zu meinen Lieben zu rennen, sie zu umarmen und ihnen zu sagen „Wir haben es geschafft!“ wäre das schönste Geschehen, das mir passieren könnte. Eine Rückkehr zu meinem normalen Leben hier ist es, was ich mir jetzt am meisten wünsche.

Lieber Aldo, vielen Dank.