Schüleraustausch zwischen Hamburg und Shanghai im Jubiläumsjahr der Städtepartnerschaft

 

Für 15 Hamburger und 15 Shanghaier Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 14 und 18 Jahren war 2016 ein ganz besonderes Jahr, denn sie durften am 30. Schüleraustausch zwischen den Städten teilnehmen. Im September war die chinesische Gruppe drei Wochen zu Besuch in Hamburg, im Herbst fuhren die Hamburger für drei Wochen nach Shanghai. Der Austausch findet jährlich im Rahmen der Städtepartnerschaft statt und wurde in diesem Jahr vom Walddörfer-Gymnasium koordiniert. Beteiligt sind auf Hamburger Seite außerdem die Ida-Ehre-Schule und das Christianeum, auf Shanghaier Seite die Shanghai Foreign Language School, die Datong Highschool und die Weiyu Highschool.

„I, ar, san, tse“, tönt es in Endlosschleife aus den Lautsprechern auf dem Sportplatz der Datong Highschoool. Synchron kreisen die Arme von zweitausend Schülerinnen und Schülern in blauweißen Jogginganzügen zur vorgegebenen Zählung. Es ist 7.40 Uhr und damit Zeit für den allmorgendlichen Frühsport. Zuvor war die chinesische Flagge von zwei Schülern am Mast gehisst worden. Dieser Fahnenappell wird durch das Einspielen der Nationalhymne feierlich begleitet. Abschließend folgen kurze Anweisungen, die Schüler formieren sich klassenweise, Marschmusik ertönt, die Gruppen laufen in ihre Klassenräume. Der Unterricht an der Datong Highschool in Shanghai kann beginnen. Wir verfolgen jeden Morgen aufs Neue gebannt der Zeremonie.

Nach dem ritualisierten Start beginnt für die Hamburger Schülerinnen und Schüler das Tagesprogramm, zumeist eine Mischung aus Ausflügen in die Umgebung und Teilnahme am Unterricht. „Die Schule nimmt in China einen größeren Raum ein als bei uns, die Chinesen müssen sehr viel lernen und haben kaum Freizeit“, meint Stine. „No end to learning“ sprangt wie zur Bestätigung als Leitspruch in goldenen Lettern über dem Eingangsportal der Shanghai Foreign Language School und Christoph ergänzt: „Die Unterrichtsstunden sind eng getaktet und dauern oft bis in die Abendstunden.“ Aus diesem Grund wohnen viele Schülerinnen und Schüler unter der Woche im Wohnheim der Schule, weil sich abends nach der Lernzeit in der Bibliothek der Weg nach Hause nicht lohnt. Streber sei in China ein positiver Begriff, stellt Thilo verwundert fest. Der Konkurrenzdruck ist hoch und so verbringen die Chinesen auch am Wochenende viel Zeit mit Lernen, Zusatzkursen oder nehmen für die Schule an Wettbewerben teil, wie Thilo bei seinem Austauschpartner Tim beobachtet.

Gewundert hat sich Thilo auch über den lehrerzentrierten Unterricht, in dem die chinesische Lehrkraft bisweilen ein Headset einsetzt, um sich in den großen Klassen verständlich zu machen. Das Engagement der Lehrkraft wird auch nach ihrem Redeanteil bemessen, erklärt uns Deutschlehrer Wang. Ihre Aufgabe sei schließlich, ihrer Lerngruppe etwas beizubringen und sie von ihrem Wissen profitieren zu lassen. Gruppenarbeiten oder das eigenständige Erarbeiten von Themen seien daher auch bei Eltern nicht so gern gesehen.

Doch die Lernerei zahlt sich aus, wie wir beim Abendessen in der Schulmensa feststellen können. Mit uns am runden Tisch sitzt Andrea, ein chinesisches Mädchen aus dem zweiten Lernjahr, die sich ganz souverän und fließend mit uns auf Deutsch unterhält und dabei ganz entzückt ihre Gelegenheit nutzt, um den Hamburger Mädchen Löcher in den Bauch zu fragen.

Ortswechsel. Die Ausflüge in die Shanghaier Innenstadt sind atemberaubend. „Alles erscheint viel höher, größer, dichter oder schneller als in Hamburg und an die Menschenmassen, die sich tagtäglich durch die Stadt schieben, muss man sich erst gewöhnen“, bemerkt Christoph überwältigt. „Faktor 10“ lautet die simple Formel, auf die sich die Vergleiche zwischen Hamburg und Shanghai bringen lassen, wie wir eine Woche später auf der festlichen Jubiläumsfeier der 30jährigen Städtepartnerschaft erfahren. Aber Quantität sei doch nicht das entscheidende Kriterium, wendet Herr Zhang von der Shanghaier Bildungskommission lächelnd ein. Tatsächlich haben die Fakten ihre Wirkung: U-Bahnfahrten in der pulsierenden 23-Millionen-Metropole sind ein Abenteuer, Spaziergänge auf der Flaniermeile des Bund oder der Nanjing Road sind in der Gruppe eine Herausforderung. Die Stadt pulsiert, überall Bewegung und ein Gewimmel an hoch modern gekleideten Menschen, die sich zwischen Autos, Schubkarren und Lastfahrrädern ihren Weg über die zahllosen Kreuzungen bahnen. Plötzlich schnurren unbeleuchtete E-Mopeds lautlos an uns vorbei. Wir machen einen abendlichen Ausflug zum Bund: Die Leuchtreklamen der Shanghaier Skyline im Stadtteil Pudong blinken in schrillen Farben über den Huangpu-River, illuminierte Fähren schieben sich in regelmäßigen Abständen den Fluss hinauf. Die Hamburger Gruppe ist beeindruckt und drängelt sich mit den vielen anderen Besuchern und ihren Selfie-Sticks auf der Promenade, um die guten Fotoplätze an der Balustrade zu ergattern. Wer blond ist, wird gern um ein gemeinsames Foto gebeten. Diesen Wunsch erfüllen Fiona und Stine inzwischen sehr routiniert, seit wir bei unserem Besuch in der verbotenen Stadt in Peking im Menschen- und Fähnchenmeer chinesischer Reisegruppen deren Fotobegeisterung kennengelernt haben.

„Ich muss unbedingt mehr Chinesisch lernen“, nimmt sich Louisa vor. Sie steht vor einem Relief am Lingyin-Tempel bei Hangzhou. „Diese Kultur ist so anders als unsere, es gibt so viel zu entdecken!“, ruft sie aus und visiert mit ihrem Fotoapparat die imposante Buddhastatue an, die in der Mitte einer Halle thront. „Unser Programm in China war so abwechslungsreich“, erinnerst sich Thilo rückblickend „Wir haben einerseits mit der chinesischen Mauer, der verbotenen Stadt und dem Himmelstempel in Peking sowie dem Westsee in Hangzhou und dem Wasserdorf Zhujiajiao sehr viel vom traditionellen China kennen gelernt. Andererseits gaben uns die futuristischen Gebäude, die Firmenbesuche bei  SAIC-Volkswagen  und Covestro oder die Zugfahrt auf der für 380 km/h ausgelegten Schnellfahrtstrecke von Peking nach Shanghai einen Einblick in die Zukunft.“

Tradition und Moderne, alt und neu, schnell und langsam, Ying und Yang; wir erleben China als Land der Gegensätze. Auf unseren Streifzügen durch die Straßen Shanghais trennen beide Pole oft nur wenige Schritte: hier ein hochglänzender Konsumtempel, dort die traditionelle Shikumen-Siedlung. Hier wird auf der Straße noch ein Huhn gerupft oder Wäsche getrocknet, dort wächst ein neuer Wolkenkratzer in den Himmel.

Wir üben uns in Kalligraphie und chinesischem Schwertkampf, bereiten die köstlichen Teigtaschen „Jaozi“ zu, fangen auf der Insel Chongming Krebse und setzen in Zhujiajiao Goldfische aus. Wir flanieren über den Pekinger Delikatessenmarkt, bewundern die Vorstellung der Shanghaier Artisten, beobachten die Gesangs-, Tanz-, und Schachaktivitäten der Shanghaier Senioren in den Parks und werden eines Abends Zeugen, wie eine uniform gekleidete Frauengruppe zur Musik des Ghettoblasters auf dem dunklen Fußweg neben einer vielbefahrenen Straße einen Formationstanz präsentiert. Wir sind zu Gast bei der Hamburger Repräsentanz in Shanghai, dem  Liaison Office, wir tragen uns in das Buch der Stadt im Rathaus ein und werden in der Erziehungskommission empfangen. Wir bestaunen die antiken Exponate im Shanghaier Museum und möchten die gläserne Aussichtsplattform des Pearl Tower mit ihrem überwältigen Blick über die Stadt gar nicht mehr verlassen. Wir lernen mit Stäbchen zu essen und stellen fest, dass das Essen in China ganz anders schmeckt als im deutschen Chinarestaurant und die Shanghaier Küche mit ihren süß-scharfen, süß-salzigen oder bitter-süßen Geschmacksrichtungen einige unerwartete Gaumenfreuden für uns bereit hält.

Es ist Wochenende. Nachdem die Hamburger Schüler den Alltag an chinesischen Schulen kennengelernt haben, werden sie am Freitag von ihren Gastfamilien abgeholt und nehmen über das Wochenende am Familienleben teil. „Es hat mich sehr beeindruckt, wie offen, freundlich und herzlich wir in den Gastfamilien aufgenommen und behandelt wurden“, berichtet Thilo. „Zwar konnten nicht immer alle Familienmitglieder Englisch“, ergänzt Fabienne, „aber trotzdem war es kein Problem zu kommunizieren, zur Not auch mit Händen und Füßen.“

 

Auf die Frage, was denn das Herausragende des Austausches gewesen sei, kommt keine schnelle Antwort. „Die neuen Freunde, die ich gewonnen habe, und mit denen ich noch immer Kontakt habe“, antworten Christina und Fiona dann fast gleichzeitig, „und die Einblicke in die chinesische Kultur und den Schulalltag“ schiebt Fiona nach, während Christina betont, dass es für sie spannend gewesen ist, China einmal ohne ihre chinesische Familie kennen zu lernen. Thilo formuliert es dagegen allgemeiner: „Wenn man vollkommen offen und interessiert an alles Neue herangeht, kann man viel besser in die fremde Kultur eintauchen und es fällt viel leichter, neue Freundschaften zu schließen.“ Einig sind sich aber alle: Wer einmal in China war, der wird den Kontakt halten und wiederkommen. (Wu/Tw)